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Neue Viren im Visier

Nr. 27 | 13.05.2024 | von Koh

Urplötzlich sind sie da und können – wie das Coronavirus SARS-CoV-2 – große Epidemien auslösen: Viren, die niemand auf dem Schirm hatte. Sie sind nicht wirklich neu, aber sie haben sich genetisch verändert. Vor allem der Austausch von genetischem Material zwischen unterschiedlichen Virusarten kann dazu führen, dass plötzlich bedrohliche Erreger mit deutlich veränderten Eigenschaften entstehen. Das legen aktuelle genetische Analysen eines internationalen Forscherteams nahe. Federführend bei der großangelegten Untersuchung waren Virologinnen und Virologen vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).

© Adobe Stock

„Wir haben mit einem neuen computergestützten Analyseverfahren bei unterschiedlichen Wirbeltieren von Fischen bis hin zu Nagetieren 40 bislang unbekannte Nidoviren entdeckt, darunter auch 13 Coronaviren", berichtet DKFZ-Gruppenleiter Stefan Seitz. Mit Hilfe von Hochleistungsrechnern hat die Forschergruppe, der u.a. auch die Arbeitsgruppe um Chris Lauber vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Hannover angehört, fast 300.000 Datensätze gesichtet. Dass wir heute auf einen Schlag derart riesige Datenmengen analysieren können, eröffnet ganz neue Perspektiven, so Virusforscher Seitz.

Die Virusforschung steht noch relativ am Anfang. Nur ein Bruchteil aller in der Natur vorkommenden Viren ist bekannt, und zwar vor allem solche, die bei Mensch, Haustier und Nutzpflanzen Krankheiten auslösen. Deshalb verspricht das neue Verfahren mit Blick auf das natürliche Virusreservoir einen Quantensprung an Erkenntnissen. Stefan Seitz und seine Kollegen haben genetische Daten von Wirbeltieren, die in wissenschaftlichen Datenbanken gespeichert waren, mit neuer Fragestellung durch ihre Hochleistungsrechner geschickt. Sie fahndeten nach virusinfizierten Tieren, um so im großen Stil an virales Genmaterial zu kommen und es untersuchen zu können. Ein Hauptaugenmerk lag dabei auf sogenannten Nidoviren, zu denen auch die Familie der Coronaviren zählt.

Nidoviren, deren Erbgut aus RNA (Ribonukleinsäure) besteht, sind bei Wirbeltieren weit verbreitet. Die artenreiche Virusgruppe weist einige gemeinsame Merkmale auf, die sie von allen anderen RNA-Viren unterscheiden und ihre Verwandtschaft dokumentieren. Sonst jedoch sind Nidoviren untereinander sehr verschieden, was u.a. die Größe ihres Genoms (Erbmaterials) betrifft.

Mit Blick auf die Entstehung neuer Viren ist eine Entdeckung besonders interessant: In Wirtstieren, die gleichzeitig mit unterschiedlichen Viren infiziert sind, kann es während der Virusvermehrung zu einer Neukombination viraler Gene kommen. „Offenbar findet bei den von uns entdeckten Nidoviren in Fischen relativ häufig ein Austausch von Genmaterial zwischen verschiedenen Virusarten statt, und zwar auch über familiäre Grenzen hinweg", so Stefan Seitz. Und wenn sich entfernte Verwandte „kreuzen", kann das dazu führen, dass Viren mit völlig neuen Eigenschaften entstehen. Derartige Evolutionssprünge können laut Seitz die Aggressivität und Gefährlichkeit der Viren betreffen, aber auch ihre Bindung an bestimmte Wirtstiere.

„Eine genetische Tauschbörse, wie wir sie bei Fischviren gefunden haben, wird es vermutlich auch bei Säugetierviren geben", erklärt Stefan Seitz. Als wahre Schmelztiegel gelten Fledermäuse, die – ebenso wie Spitzmäuse – häufig mit einer Vielzahl unterschiedlicher Viren infiziert sind. Wahrscheinlich hat sich auch das Coronavirus SARS-CoV-2 in Fledermäusen entwickelt und ist von dort auf den Menschen übergesprungen.

Oft verändert sich nach Genaustausch zwischen Nidoviren das Spikeprotein, mit dem die Viren an ihre Wirtszellen andocken. Das konnte Chris Lauber, Erstautor der Studie, mittels Stammbaumanalysen zeigen. Ein Umbau dieses Ankermoleküls kann die Eigenschaften der Viren entscheidend zu ihrem Vorteil verändern – durch einen Anstieg der Ansteckungsfähigkeit (Infektiosität) oder die Möglichkeit eines Wirtswechsels. Ein Wirtswechsel speziell vom Tier zum Menschen kann die Virusausbreitung enorm begünstigen, wie die Coronapandemie nachdrücklich demonstriert. Jederzeit können plötzlich virale „Gamechanger" auftauchen, die zu einer massiven Bedrohung werden und – wenn es hart auf hart kommt – eine Pandemie auslösen. Ausgangspunkt kann ein einziges doppelt infiziertes Wirtstier sein!

Das neue Hochleistungs-Computerverfahren könnte dazu beitragen, die Ausbreitung neuer Viren zu verhindern. Es ermöglicht eine systematische Suche nach potenziell für den Menschen gefährlichen Virusvarianten, erklärt Stefan Seitz. Und der DKFZ-Forscher sieht eine weitere wichtige Anwendungsmöglichkeit mit Blick auf sein spezielles Forschungsgebiet, die Virus-assoziierte Krebsentstehung: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir das neue High Performance Computing (HPC) einsetzen, um Krebspatienten bzw. immungeschwächte Menschen systematisch auf Viren hin zu untersuchen. Wir wissen, das Krebs durch Viren ausgelöst werden kann, das bekannteste Beispiel dafür sind die Humanen Papillomviren. Aber wahrscheinlich sehen wir bislang nur die Spitze des Eisbergs. Das HPC-Verfahren bietet die Chance, Viren auf die Spur zu kommen, die sich, bisher unentdeckt, im menschlichen Organismus einnisten und das Risiko bösartiger Tumoren erhöhen."

Chris Lauber, Xiaoyu Zhang, Josef Vaas, Franziska Klingler, Pascal Mutz, Arseny Dubin, Thomas Pietschmann, Olivia Roth, Benjamin W. Neuman, Alexander E. Gorbalenya, Ralf Bartenschlager, Stefan Seitz: Deep mining of the Sequence Read Archive reveals major genetic innovations in coronaviruses and other nidoviruses of aquatic vertebrates.

Plos pathogens 2024, doi.org/10.1371/journal.ppat.1012163

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, Interessierte und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.

Um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Patientinnen und Patienten zu verbessern, betreibt das DKFZ gemeinsam mit exzellenten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland Translationszentren:

  • Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT, 6 Standorte)
  • Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK, 8 Standorte)
  • Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) Heidelberg
  • Helmholtz-Institut für translationale Onkologie (HI-TRON) Mainz – ein Helmholtz-Institut des DKFZ
  • DKFZ-Hector Krebsinstitut an der Universitätsmedizin Mannheim
  • Nationales Krebspräventionszentrum (gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe)
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

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