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Schloss ohne Schlüssel: Die Balance der Rezeptoren steuert Blutgefäß-Entwicklung

Nr. 41c | 10.09.2015 | von Koh

Tie1 ist ein Rezeptor auf der Oberfläche von Blutgefäßwandzellen, für den bisher kein Bindungspartner gefunden wurde. Mäuse sind ohne Tie1 nicht lebensfähig. Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Universität Heidelberg ist es jetzt gelungen, den komplizierten molekularen Mechanismus zu entschlüsseln, mit dem Tie1 die Funktion des verwandten Rezeptors Tie2 steuert. Damit reguliert Tie1 essenzielle Funktionen der Blutgefäße, ohne selbst einen Wachstumsfaktor zu binden.

Einzelne Endothelzellen (grün) exprimieren den „Waisenrezeptor“ Tie1 im ausreifenden Gefäßbett (rot) der Netzhaut heranwachsender Mäuse.
© dkfz.de

Als Waisenrezeptoren („orphan receptors“) bezeichnen Wissenschaftler Rezeptor-Proteine auf der Oberfläche von Zellen, für die bisher kein passender Bindungspartner gefunden wurde. Die Bindungspartner, in der Regel Wachstumsfaktoren, aktivieren den Rezeptor und leiten so ein biologisches Signal ins Zellinnere weiter. „Orphan-Rezeptoren sind wie ein Schloss ohne Schlüssel. Niemand will damit arbeiten, weil sich ihre Funktion so schwer bestimmen lässt“, sagt Hellmut Augustin, Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum und der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.

Tie1 ist ein solch mysteriöser Waisenrezeptor, von dem bekannt ist, dass er wichtige Funktionen bei der Entwicklung von Blutgefäßen hat. Schaltet man Tie1 in Mäusen genetisch aus, so bleiben ihre Blutgefäße unausgereift und durchlässig. In der Folge sterben die Tiere an Ödemen, Flüssigkeitsaustritten aus den Adern. In erwachsenen Mäusen spielt Tie1 eine wichtige Rolle bei Atherosklerose und Tumorwachstum.

„Lange haben wir nach einem Bindungspartner für Tie1 gesucht, um zu verstehen, wie der Rezeptor seine Funktionen auf das Gefäßsystem ausübt. Nach jahrelanger erfolgloser Suche haben wir uns überlegt, dass Tie1 vielleicht gar keinen Bindungspartner hat“, sagt Soniya Savant, die Erstautorin der jetzt erschienenen Arbeit, die erstmals wesentliche Erkenntnisse über die Wirkungsweise des Orphan-Rezeptors Tie1 zutage gefördert hat.

Soniya Savant und ihre Kollegen haben ihre Hypothese in umfangreichen zellulären, biochemischen und genetischen Versuchsreihen getestet und schließlich ein komplexes Modell der Tie1-Funktion erarbeitet: In wachsenden Blutgefäßen wird Tie1 stark exprimiert und unterdrückt dort die Funktion des verwandten Rezeptors Tie2. Dadurch werden die Gefäßwandzellen in einem unreifen Zustand gehalten und das Aussprossen von Gefäßen gefördert. In ausreifenden Gefäßen ist Tie1 in Balance mit Tie2 und fördert die Tie2-vermittelte Signalweiterleitung. In vollkommen ausgereiften Gefäßen wird Tie1 kaum noch exprimiert, ihr Ruhezustand wird durch Tie2 aufrechterhalten.

Tie1 steuert also die Funktion eines anderen Rezeptors, ohne selbst einen Wachstumsfaktor zu binden. „Die dynamische Regulation der Tie1-Expression in unterschiedlich ausgereiften Gefäßen ist der Schlüssel für das Verständnis dieses Rezeptors“, erklärt Augustin. „Dadurch kann Tie1 je nach Kontext sowohl stimulierend als auch hemmend auf Tie2 wirken.“

Der Aktivierungszustand der Gefäße spielt bei vielen Krankheiten eine entscheidende Rolle. Daher sind Tie2 und seine Bindungspartner, die Angiopoietin Wachstumsfaktoren, bereits Gegenstand weltweiter intensiver klinischer Forschung mit dem Ziel, Tumoren und Augenerkrankungen zu behandeln.

Die Erkenntnis, dass Tie1 auf ruhenden Gefäßen praktisch nicht und auf pathologisch aktivierten stark exprimiert wird, macht nun auch diesen Waisen-Rezeptor zu einem interessanten therapeutischen Angriffsziel: Daher sind die Forscher um Hellmut Augustin nun dabei, die Bedeutung von Tie1 bei der Metastasierung zu entschlüsseln und zu prüfen, ob die Blockade von Tie1 verhindern kann, dass sich Tumoren ausbreiten.

Soniya Savant, Silvia La Porta,Annika Budnik,Katrin Busch,Junhao Hu,Nathalie Tisch,Claudia Korn, Aida Freire Valls,Andrew V. Benest,Dorothee Terhardt,Xianghu Qu, Ralf H. Adams, H. Scott Baldwin, Carmen Ruiz de Almodovar,Hans-Reimer Rodewald,und Hellmut G. Augustin: The orphan receptor Tie1 controls angiogenesis and vascular remodeling by differentially regulating Tie2 in tip and stalk cells. Cell Reports 2015, DOI: 10.1016/j.celrep.2015.08.024

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, Interessierte und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.

Um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Patientinnen und Patienten zu verbessern, betreibt das DKFZ gemeinsam mit exzellenten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland Translationszentren:

  • Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT, 6 Standorte)
  • Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK, 8 Standorte)
  • Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) Heidelberg
  • Helmholtz-Institut für translationale Onkologie (HI-TRON) Mainz – ein Helmholtz-Institut des DKFZ
  • DKFZ-Hector Krebsinstitut an der Universitätsmedizin Mannheim
  • Nationales Krebspräventionszentrum (gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe)
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

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