Krebs: Pech oder eigene Schuld?
Der renommierte Krebsforscher Bert Vogelstein berichtete kürzlich in der Zeitschrift „Science“, dass Stammzellen maßgeblich an einer Krebserkrankung beteiligt seien: Die Wahrscheinlichkeit, dass Krebs in einem bestimmten Gewebe entsteht, sei höher, je mehr Stammzellen darin vorkommen und je öfter sie sich teilen. Da man die Stammzellen nicht beeinflussen könne, sei eine Krebserkrankung schlicht Pech. Die Weltgesundheitsorganisation widerspricht vehement: Durch Prävention ließe sich mindestens die Hälfte aller Krebsfälle vermeiden. Über Pech und Schuld bei Krebs haben wir mit dem Stammzellforscher Professor Andreas Trumpp (Bild oben rechts) und dem Epidemiologen Professor Rudolf Kaaks (Bild oben links) diskutiert.
_Herr Trumpp, Herr Kaaks, hat man bei Krebs Pech oder ist man selbst Schuld?
Trumpp: Wie immer liegt die Antwort irgendwo dazwischen. Es sind beide Komponenten, die zusammenspielen. Das wissenschaftlich Neue an der Studie ist, dass es einen verblüffenden Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit, wie oft Krebs in einem bestimmten Organ entsteht, und der Aktivität der Stammzellen in diesem Organ.
Kaaks: Ich würde ebenfalls sagen: beides. Da spielt ein Zufallsfaktor bestimmt auch eine Rolle. Zugleich belegen epidemiologische Studien eindeutig, dass auch das eigene Verhalten ausschlaggebend ist. Es gibt natürlich immer Beispiele von Personen, die viel geraucht haben und trotzdem keinen Krebs bekommen. Oder Menschen, die Lungenkrebs kriegen, obwohl sie nie geraucht haben. Allerdings wissen wir, dass etwa 90 Prozent des Auftretens von Lungenkrebs mit dem Rauchen zusammenhängen. Insgesamt ist da ein großer Zufallsfaktor dabei, aber man kann sein Schicksal auch selbst beeinflussen.
_Warum hat Bert Vogelstein ausgerechnet nach den Stammzellen geschaut?
Trumpp: Wir wissen, dass Krebs durch verschiedene Genveränderungen in einer Zelle hervorgerufen wird. Man muss sich vorstellen, dass eine Stammzelle erstens extrem lange lebt – meist so lange wie der ganze Organismus – und zweitens eine einzige Stammzelle mehrere Milliarden Tochterzellen während des Lebens bildet. Trifft nun eine genetische Mutation eine Stammzelle, erben alle Tochterzellen diesen Gendefekt und er landet in Milliarden von Zellen. Dadurch wird sozusagen die Saat des Tumors gelegt. Und je häufiger sich eine Stammzelle teilt, desto häufiger
passieren Fehler und es entstehen – per Zufall – Mutationen.
_Wie kann man die Anzahl der Stammzellteilungen überhaupt messen oder berechnen?
Trumpp: Bert Vogelstein hat dazu keine eigenen Experimente durchgeführt, sondern in der Literatur vorhandene Studien zu Rate gezogen. Nach eingehender Prüfung muss man allerdings sagen, dass in einigen dieser Organe die Stammzellen noch gar nicht ganz genau beschrieben sind und von daher auch ein gewisser Unsicherheitsfaktor besteht, inwieweit die Zahlen wirklich belastbar sind.
_Und das hat Vogelstein verglichen mit dem Lebenszeitrisiko, in diesem Gewebe Krebs zu entwickeln. Wie kann man das berechnen?
Kaaks: Das Lebenszeitrisiko wird aus Krebsregisterdaten errechnet und drückt sich aus als die prozentuale Wahrscheinlichkeit, auf Lebenszeit an einer bestimmten Form von Krebs zu erkranken. Für verschiedene Krebstypen in unterschiedlichen Organen hat Vogelstein die Lebenszeitrisiken mit der Rate der Zellteilungen verglichen. Es ist wichtig festzustellen, dass diese Analyse zwar möglicherweise die Unterschiede des lebenslangen Risikos, Krebs in einem bestimmten Organ zu entwickeln, erklären kann – beispielsweise in der Lunge im Vergleich zum Dünndarm oder Dickdarm. Aber es sagt nichts aus zum individuellen Risiko für eine bestimmte Krebsart. Da gibt es natürlich ein durchschnittliches Risiko, aber es gibt große Variationen – je nachdem, wie man sich verhält oder ob man eine genetische Veranlagung hat.
_Ist die Anzahl der Stammzellteilungen in einem bestimmten Organ bei allen Menschen gleich?
Trumpp: Die Anzahl der Stammzellteilungen hängt direkt davon ab, ob sich das Organ in einem gesunden Zustand oder unter Stress befindet. Den Stress können zum Beispiel Infektionen auslösen oder Blutverlust durch eine Verletzung. Das sind Faktoren, die dazu führen, dass die Zellteilung der Stammzellen massiv zunimmt. Das heißt, sie ist wiederum abhängig von bestimmten Umweltfaktoren.
Kaaks: Es ist sehr gut vorstellbar, dass sowohl die Anzahl der Stammzellen als auch die Anzahl der Zellteilungen lebenslang von weiteren Faktoren individuell beeinflusst wird. Das könnte sogar eine mögliche Erklärung dafür sein, dass eine Person für eine bestimmte Krebsart, sagen wir Dickdarmkrebs, ein höheres Risiko hat als eine andere – abhängig von bestimmten Risikofaktoren wie Übergewicht oder Ernährung.
Trumpp: Wir wissen zum Beispiel, dass chronische Entzündungen immer mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergehen.
Kaaks: Genau.
Trumpp: Durch die Entzündung teilen sich die Stammzellen häufiger, dadurch gibt es mehr Möglichkeiten für Mutationen, mehr Mutationen führen zu mehr Krebs - von daher ist der Zusammenhang zwischen Krebsentstehung und Stammzellteilungen auch in Bezug auf chronische Entzündungen durchaus nachvollziehbar.
_Wenn Entzündungen dafür sorgen, dass sich Krebsstammzellen häufiger teilen, könnte man diese Entzündungen nicht unterdrücken?
Kaaks: Ja. Ein Faktor, der sehr zu chronischen Entzündungen beiträgt, ist Übergewicht. Das Fettgewebe ist dann sehr stark von Makrophagen infiltriert, die dort eine Entzündung hervorrufen, zum Beispiel in der Brust oder rund um den Darm herum. Zugleich werden Entzündungsfaktoren in die Blutbahn ausgeschüttet und können so im gesamten Körper Entzündungsprozesse fördern. Einer der Gründe, warum Übergewicht so stark zum Entstehen von Krebs beiträgt, ist vermutlich gerade diese chronische Entzündung.
_Kann man nicht mit Aspirin die Entzündung unterdrücken? Gibt es nicht sogar schon Ansätze, mit Aspirin gegen Krebs vorzubeugen?
Kaaks: Aspirin ist eine Möglichkeit vorzubeugen. Es ist aber nicht allen zu empfehlen, täglich Aspirin einzunehmen. Eine regelmäßige Einnahme kann Nebenwirkungen haben und zum Beispiel zu Blutungen im Gehirn führen. Ich würde eher sagen: Man soll Übergewicht vermeiden, dann erreicht man Ähnliches.
Trumpp: Ich glaube, die Autoren hatten wirklich nicht das Ziel, die Prävention infrage zu stellen. Im Gegenteil, sie haben für das Rauchen bei Lungenkrebs oder Sonnenlicht bei Hautkrebs ausdrücklich darauf hingewiesen. Aber sie wollten den Faktor Zufall in den Vordergrund rücken. Das hat natürlich auch zum Ziel, dass es mit dem Stigma – jemand, der an Krebs erkrankt, ist selbst schuld, hätte er mal vernünftig gelebt – so einfach eben auch nicht ist.
Kaaks: Aber sie verkennen ganz einfach die Daten aus der Epidemiologie, die sehr klar dokumentieren, dass es weltweit enorme Unterschiede im Krebsrisiko gibt. Viele der Krebsarten, die bei uns heute häufig sind, waren es in der Vergangenheit nicht und treten in bestimmten Ländern zehnfach seltener auf. Man weiß auch, dass Migranten aus Ländern mit niedrigen Risiken innerhalb von einer oder zwei Generationen ein genauso hohes Risiko tragen, wie die Bevölkerung in dem neuen Land. Das kann nur durch Verhaltensunterschiede oder Umweltfaktoren bedingt sein. Ich spreche von Brustkrebs, Dickdarmkrebs, Speiseröhrenkrebs und noch einer ganzen Reihe von weiteren Krebsarten.
_Das war ja ein Kritikpunkt an der Studie, dass die häufigen Krebsarten wie Brustkrebs und Prostatakrebs in der Analyse fehlen. Weiß man da nichts über die Stammzellen?
Trumpp: Es ist tatsächlich so, dass die Anzahl oder die Teilungsrate der Prostatastammzellen noch recht unklar ist. Allerdings stimmt das auch für einige Organe, die sie in ihren Studien mit eingeschlossen haben, und da waren sie weniger kritisch. Die Autoren weisen aber auf Daten hin, dass die Verhütung von Prostatakrebs über Umweltfaktoren wohl nahe Null ist und bei Brustkrebs bei etwa 25 Prozent lieg.
_Herr Kaaks, stimmt es, dass man beim Prostatakrebs das Risiko eigentlich gar nicht beeinflussen kann und bei Brustkrebs nur sehr wenig?
Kaaks: Ich denke nicht, dass das stimmt. Wir wissen für Prostatakrebs, dass es sehr große Unterschiede in den Inzidenzraten weltweit gibt .
_Bei uns ist das Risiko für Prostatakrebs hoch, wo ist es niedrig?
Kaaks: Viel niedriger ist es zum Beispiel in Südostasien ..
_Obwohl die Menschen dort auch sehr alt werden. Bei uns gilt ja das Alter als Hauptrisikofaktor für Prostatakrebs.
Kaaks: Richtig. Nur verändern sich die Raten auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung und mit den Veränderungen im Lebensstil, die damit zusammenhängen. Nun muss ich andererseits zugeben:Wir wissen, dass es Umweltfaktoren gibt, die eine Rolle spielen. Aber welche es sind, haben wir für Prostatakrebs noch nicht eindeutig belegt.
_Beim Herz gibt es ja fast keine Krebsfälle, das Herz ist hier auch nicht aufgeführt. Hat das Herz keine Stammzellen?
Trumpp: Ja, das ist richtig, es gibt keine wirklich guten Daten, die darauf hinweisen, dass das Herz Stammzellen enthält. Krebs im Herz ist extrem unwahrscheinlich, es gibt nur einige wenige Fälle weltweit. Das passt zu der Idee, dass Stammzellen die Saat des Tumors sind.
_Insgesamt scheint diese Arbeit die Bedeutung der Stammzellen für die Krebsentstehung zu stärken. Beflügelt das jetzt die Forschung an Krebsstammzellen?
Trumpp: Ja, auf jeden Fall, weil wir inzwischen zumindest bei der Leukämie die ersten Genveränderungen der Stammzellen kennen. Inwieweit sich dadurch die normale Stammzelle über verschiedene Zwischenstadien zu einer Krebsstammzelle verwandelt, ist natürlich etwas, an dem wir ganz besonders stark interessiert sind.
_Lähmt es die Forschung zur Prävention?
Kaaks: Nein. Das eine schließt das andere überhaupt nicht aus. Das sind nur komplementäre Wahrnehmungen, die gemeinsam von der Stammzellforschung und von der Epidemiologie aus zu einem besseren Verständnis des Entstehens von Krebs führen können. Aus epidemiologischer Sicht wäre es interessant zu wissen, wie die Zahl der Stammzellteilungen durch Lebensstilfaktoren mitbeeinflusst werden kann.
_Zum Schluss die Frage nach dem psychologischen Effekt: Wäre es Ihnen bei einer Krebsdiagnose nicht lieber, wenn der Arzt Ihnen sagt: Sie haben Pech gehabt, als: selber schuld!? Und man sich dann fragen muss: Was habe ich falsch gemacht?
Kaaks: Na ja, ich bin natürlich ein Sonderfall. Ich beschäftige mich schon fast mein ganzes berufliches Leben mit der Frage der Prävention und weiß nur allzu gut, was ich selbst ändern kann. Das soll nicht heißen, dass ich mir jeden Genuss im Leben verweigere und keinen Wein trinke oder auch mal etwas mehr esse als ich sollte. Im Endeffekt muss man in vollem Bewusstsein dieser Faktoren sein eigenes Leben gestalten. Man kann vieles für sich selbst tun. Man soll es aber auch für sich selbst entscheiden. Ich denke, das ist die wichtige Nachricht.
Trumpp: Das Leben ist voller Zufälle. Ich kann nicht beeinflussen, welche Gene ich von meinen Eltern mitbekommen habe. Die Mutationen passieren zufällig, weil einfach Kopierfehler im Genom auftreten. Und es ist auch klar, dass gewisse Umwelteinflüsse einen sehr großen Einfluss haben. Sie haben das sehr schön zusammengefasst: Rauchen, Sonnenlicht vor allem als Kind etc. Dann gibt es viele andere Verhaltensregeln, die sich alle paar Jahre ändern und die im Verhältnis zum Zufall nur einen geringen Einfluss auf die Krebshäufigkeit haben. Die Idee – Ich muss mich nur gesund ernähren, dann kriege ich keinen Krebs – ist natürlich totaler Humbug.
Kaaks: Nein, es ist kein Humbug. Man verringert das Risiko. Aber das Lebenszeitrisiko zu sterben, bleibt 100 Prozent. Und da wird Krebs immer eine häufige Ursache bleiben. Das ist richtig.
_Die Frage ist, wann.
Kaaks: Wenn wir Vorbeugen sagen, dann meinen wir in der Epidemiologie in der Tat meist: länger gesünder leben ohne Krebs.
Trumpp: Ich würde empfehlen, einfach ein ausgewogenes Leben zu führen und
Spaß zu haben: Zufall und Vernunft zusammen wird uns allen gut tun.
_Herr Trumpp, Herr Kaaks, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Stefanie Seltmann