Versteckte Botschaften in Proteinbauplänen: Neuer Mechanismus zur Regulation der Aktivität von Stammzellen entdeckt
Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und vom Heidelberger Institut für Stammzelltechnologie und Experimentelle Medizin (HI-STEM)* sowie vom Max-Planck-Institut in Freiburg haben einen neuen Steuerungsmechanismus identifiziert, der es Stammzellen in Notfallsituationen ermöglicht, ihre Aktivität anzupassen. Die Stammzellen verändern hierzu simultan die in den Genabschriften verschlüsselten Baupläne für Hunderte von Proteinen. So steuern sie die produzierte Proteinmenge und können auch die Bildung bestimmter Protein-Varianten von Proteinen kontrollieren. Wird dieser Mechanismus inaktiviert, so verlieren Stammzellen ihr Selbsterneuerungspotential und können nicht mehr adäquat auf Gefahrensignale oder Entzündungen reagieren.
Boten-RNA-Moleküle (mRNAs), die Abschriften bzw „Transkripte" der Gene, dienen als Bauplan für den Aufbau von Proteinen. Bei allen höheren Lebewesen heftet die Zelle in einem als Polyadenylierung bezeichneten Prozess am hinteren Ende der Transkripte eine lange Kette von Adenin-Nukleotiden an, den sogenannten Poly(A)-Schwanz. Die Länge und Position der Kette variiert von Organismus zu Organismus und dient der Stabilisierung des RNA-Moleküls.
Verschiedene Signalmotive zeigen den beteiligten Enzymen die Stelle an, an der die Poly(A)-Kette an die Boten-RNA angeheftet werden soll. Nicht immer geschieht dies an der gleichen Stelle der mRNA. Die differenzielle Nutzung dieser Stellen wird als „alternative Polyadenylierung" bezeichnet. Dieser Mechanismus beeinflusst die Länge des so genannten untranslatierten Endes der mRNA, einem Bereich, der über die Proteinsequenz hinausgehende Informationen enthält. Dieser untranslatierte Bereich ist insbesondere wichtig für Stabilität, Lokalisation und die Effizienz, mit der die Transkripte in Proteine übersetzt werden. „Erst seit Kurzem ist bekannt, dass manche Zelltypen diesen Mechanismus je nach Bedarf nutzen, um zu steuern, wieviel Protein pro Transkript produziert wird und welche Isoform exprimiert werden soll", sagt Pia Sommerkamp, die Erstautorin der Studie von DKFZ und HI-STEM.
Blutstammzellen verharren zumeist in einem inaktiven Ruhezustand. In Reaktion auf pathologischen Stress wie Infektionen, Entzündungen oder Blutverlust werden sie wieder aufgeweckt: Sie erhöhen massiv den Stoffwechsel und treten in den aktiven Zellteilungszyklus ein, um möglichst viele neue Blutzellen nachzuliefern.
Zuerst untersuchten Pia Sommerkamp und ihre Kollegen, ob die alternative Polyadenylierung für Blutstammzellen überhaupt eine wichtige Rolle spielt. Dazu entfernten sie in Mäusen einen der Schlüsselfaktoren, das Poly(A) Bindeprotein PABPN1. Stammzellen ohne PABPN1 zeigten eine Reihe von funktionellen Defekten, die die generelle Bedeutung der alternativen Polyadenylierung für Blutstammzellen beweisen.
Als Nächstes untersuchten die Wissenschaftler die verschiedenen Entwicklungsstufen zwischen Blutstammzellen und den bereits weiter differenzierten Vorläuferzellen. Dabei stellten sie fest, dass sich im Zuge der Differenzierung die genutzten Polyadenylierungs-Startstellen im Genom verschieben, was zu immer kürzeren Enden der Transkripte führt. Dasselbe Phänomen beobachteten die Forscher auch, wenn sie die Zellen Interferon-induzierten Entzündungsbedingungen aussetzten.
Durch die Anwendung einer neuartigen Sequenzierungsmethode konnten sie zahlreiche Gene identifizieren, die für die Stammzellentwicklung essenziell sind und im Verlaufe der Differenzierung oder als Reaktion gegenüber Entzündungen über alternative Polyadenylierung reguliert werden. Dazu zählt unter anderem das zentrale Stoffwechselenzym Glutaminase, das in zwei unterschiedlich aktiven Varianten produziert werden kann. Wie die Forscher herausfanden, kommt es bei der Aktivierung von Blutstammzellen zu einem Wechsel von der wenig aktiven zur hochaktiven Glutaminase-Variante. Diese Umschaltung wird über die alternative Polyadenylierung koordiniert.
„Erst dieser Variantenwechsel ermöglicht es den Stammzellen, alle erforderlichen Stoffwechselwege entsprechend dem benötigten Bedarf anzupassen. Dazu gehören schnelle Aktivitätssteigerungen, die bei Infektionen oder Entzündungen notwendig sind", erläutert Nina Cabezas-Wallscheid, die am MPI in Freiburg die Studie mitbetreute. „Mit der alternativen Polyadenylierung haben wir nun eine weitere Kontrollebene entdeckt, mit der Stammzellen lebenswichtige Vorgänge regulieren. Ob auch Krebsstammzellen diesen Mechanismus für sich nutzen, wollen wir jetzt in Leukämien genauer untersuchen. Wir hoffen, dabei neue Ansätze für die Bekämpfung der Erkrankung zu erhalten", erklärt Andreas Trumpp, Direktor der HI-STEM gGmbH am DKFZ sowie Seniorautor der Studie.
*Das Heidelberger Institut für Stammzelltechnologie und Experimentelle Medizin (HI-STEM gGmbH) ist eine Partnerschaft des DKFZ und der Dietmar Hopp Stiftung
Pia Sommerkamp, Sandro Altamura, Simon Renders, Andreas Narr, Luisa Ladel, Petra Zeisberger, Paula Leonie Eiben, Malak Fawaz, Michael A. Rieger, Nina Cabezas-Wallscheid und Andreas Trumpp: Differential alternative polyadenylation landscapes mediate hematopoietic stem cell activation and regulate glutamin metabolism.
CELL Stem Cell 2020, DOI: https://dx.doi.org/10.1016/j.stem.2020.03.003
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, Interessierte und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Patientinnen und Patienten zu verbessern, betreibt das DKFZ gemeinsam mit exzellenten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland Translationszentren:
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.