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Das menschliche Blutsystem entwickelt sich kontinuierlich, nicht schrittweise

Nr. 20c | 10.04.2017 | von Koh

Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), vom Heidelberger Stammzellinstitut HI-STEM und vom EMBL untersuchten mit einer neuen Kombination von Analyseverfahren an Einzelzellen, wie Blutstammzellen im menschlichen Knochenmark zu reifen Blutzellen differenzieren. Ihr Ergebnis stellt jahrzehntealtes Lehrbuchwissen auf den Kopf.

Unser Körper produziert täglich Milliarden neuer Blutzellen, bei einer Infektion oder schweren Blutung sogar deutlich mehr. Sie alle stammen von einer kleinen Anzahl von Blutstammzellen im Knochenmark ab („hämatopoietische" Stammzellen).

Über Jahrzehnte galt es als ausgemacht, dass die Blutstammzellen in einem schrittweisen Prozess über viele verschiedene definierte Zwischenstufen schließlich zu einer der vielen Blutzellen ausreifen, zum Beispiel zu roten Blutkörperchen oder zu T-Zellen. Diesen Prozess der Blutbildung stellten sich die Forscher bildlich wie einen Stammbaum vor.

Wissenschaftler aus den Abteilungen von Lars Steinmetz, EMBL, Marieke Essers und Andreas Trumpp, Deutsches Krebsforschungszentrum und HI-STEM gGmbH, fanden nun heraus, dass dieses Modell nicht mit der Realität übereinstimmt. Vielmehr läuft die Differenzierung der Stammzellen zu reifen Blutzellen als kontinuierlicher Prozess ab: Die frühen Blut-Vorläuferzellen schlagen dabei eine der vielen möglichen Entwicklungslinien ein, ohne dabei definierte Stufen von Vorläuferzellen zu durchlaufen.

Um herauszufinden, wie sich Blutzellen entwickeln, hatten Forscher bislang meist Populationen von tausenden Zellen gebündelt analysiert. „Dabei verpasst man natürlich alle Übergangsstadien, die einzelne Zellen in solch einer Population möglicherweise einnehmen", sagt Simon Raffel, einer der Erstautoren der aktuellen Arbeit.

Um diesen Prozess besser zu verstehen, kombinierte das Heidelberger Team daher nun genomweite Analysen der Genexpression mit funktionellen Tests – von tausenden einzelner Zellen. „Für die Auswertung der Einzelzell-Daten mussten wir zuerst neue bioinformatische Analyseprogramme entwickeln", sagt Lars Velten vom EMBL. Aus der Gesamtheit der Analysen konnten die Wissenschaftler dann genau bestimmen, wann eine bestimmte Stammzelle sich für eine der möglichen Entwicklungslinien „entscheidet".

„Bislang war man davon ausgegangen, dass auf die multipotenten Stammzellen schrittweise verschiedene Stadien an oligopotenten Vorläufern folgen. Diese wiederum entwickeln sich zu unipotenten Zelltypen weiter, deren Differenzierung schon weit fortgeschritten ist. Was wir aber tatsächlich direkt nach dem Stammzellenstadium gefunden haben, waren Vorläufer, die sich bereits auf eine einzige Differenzierungslinie festgelegt haben, während bi- und tripotente Zellen die große Ausnahme blieben", erklärt Trumpp.

„Die Entscheidung für eine der möglichen Entwicklungslinien passiert also deutlich früher als wir gedacht hatten. Außerdem konnten wir keine Gruppen identischer Vorläufer-Zellen entdecken. Jede Zelle war einmalig und folgte einem kontinuierlichen – und nicht wie bisher angenommenen – schrittweisen Entwicklungsprozess", so Simon Haas, ebenfalls Erstautor.

„Die Ergebnisse haben auch erhebliche Auswirkung auf die Krebsforschung", erklärt Marieke Essers, DKFZ und HI-STEM. „Leukämien entwickeln sich höchstwahrscheinlich aus den Blutstammzellen selbst oder deren frühen Vorläuferzellen. Es ist wichtig zu wissen, an welchem Punkt der Entwicklungslinie die leukämieauslösenden Zellen aus der normalen Differenzierung ausscheren. So dachte man beispielsweise, dass die akuten myeloischen Leukämien (AML), an denen hauptsächlich Erwachsene erkranken, von einem bestimmten Vorläuferzelltyp ausgehen – von dem wir nun gezeigt haben, dass es diesen so gar nicht gibt. Nun stellt sich natürlich die Frage: Woher kommt diese Leukämie dann tatsächlich?"

„Wir haben bereits begonnen, auch leukämische Zellen aus Patienten mit derselben Einzelzell-Analytik zu untersuchen", sagt Trumpp. „Dabei wollen wir herausfinden, aus welchen Zellen die Leukämien tatsächlich entstehen und welche genetischen Netzwerke die normalen Vorläuferzellen zu Leukämiestammzellen umprogrammieren."

Das Heidelberger Stammzellinstitut HI-STEM gGmbH ist eine Partnerschaft des DKFZ und der Dietmar Hopp Stiftung.

Lars Velten, Simon F. Haas, Simon Raffel, Sandra Blaszkiewicz, Saiful Islam, Bianca P. Hennig, Christoph Hirche, Christoph Lutz, Eike C. Buss, Daniel Nowak, Tobias Boch, Wolf-Karsten Hofmann, Anthony D. Ho ,Wolfgang Huber, Andreas Trumpp, Marieke A. G. Essers and Lars M. Steinmetz: Human haematopoietic stem cell lineage commitment is a continuous process.
Nature Cell Biology 2017 DOI 10.1038/ncb3493.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, Interessierte und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.

Um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Patientinnen und Patienten zu verbessern, betreibt das DKFZ gemeinsam mit exzellenten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland Translationszentren:

  • Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT, 6 Standorte)
  • Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK, 8 Standorte)
  • Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) Heidelberg
  • Helmholtz-Institut für translationale Onkologie (HI-TRON) Mainz – ein Helmholtz-Institut des DKFZ
  • DKFZ-Hector Krebsinstitut an der Universitätsmedizin Mannheim
  • Nationales Krebspräventionszentrum (gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe)
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

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