In der Regel wird die Identität von Zellen während der Embryonalentwicklung festgelegt. Sie differenzieren zum Beispiel zu Nervenzellen oder zu Leberzellen, damit ist dann ihr Schicksal besiegelt. Nur die Stammzellen behalten die Fähigkeit, sich in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln. Einmal ausdifferenzierte Zellen jedoch bleiben normalerweise auf Kurs.
Krebszellen können ihre Identität wechseln
Anders ist es bei Krebszellen. Sie haben die erstaunliche Fähigkeit, embryonale Programme wieder anzuschalten und so ihre Identität – ihren Phänotyp – zu wechseln. Diese Fähigkeit wird als – ungewollte oder abnorme – Plastizität bezeichnet. Sie versetzt Tumorzellen unter anderem in die Lage, sich aus dem Zellverbund zu lösen und durch den Körper zu wandern. Im Zielorgan angekommen, differenzieren sich die Zellen erneut um, werden wieder sesshaft und bilden an dieser Stelle Metastasen.
„Es ist noch gar nicht lange her, dass man die Bedeutung der Plastizität als grundlegendes Phänomen bei Krebs erkannt hat“, erklärt der Molekularbiologe Moritz Mall vom DKFZ. Sein Team verfolgt das Ziel, die Plastizität von Krebszellen zu vermindern und so die Entstehung bzw. Ausbreitung bösartiger Tumoren zu unterbinden. Dazu muss man erst einmal wissen, wie die Plastizität von Zellen reguliert wird. Grundsätzlich haben fast alle Zellen im Körper ein identisches Genom (Erbmaterial). Wie ist es dann aber möglich, dass so unterschiedliche und hochspezialisierte Zelltypen wie zum Beispiel Nervenzellen oder Leberzellen entstehen?
Das Yin und Yang der Zelldifferenzierung
„Das ist nur möglich, weil die Zellen über ein ausgeklügeltes Kontrollnetzwerk verfügen“, erklärt Moritz Mall. „Dabei sind – ähnlich wie Yin und Yang – komplementäre Kräfte wirksam.“ Diese sorgen dafür, dass je nach Zelltyp nur bestimmte Gene angeschaltet sind, während andere auf Dauer stillgelegt werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Masterregulatoren. Sie schalten Gene an, unter deren Einfluss spezialisierte Zellen ihren Typ verändern und sogar Stammzelleigenschaften erlangen können.
Wenig bekannt ist dagegen bislang über die Gegenspieler – über diejenigen Kontrollinstanzen, die eine ungewollte (Rück-)Verwandlung ausdifferenzierter Zellen verhindern, indem sie bestimmte Gene abschalten. Über solche Wächter wollte Moritz Mall gemeinsam mit Judith Zaugg vom EMBLmehr herausfinden. Computergestützt fahndeten die Forschenden nach Genschaltern, die als Wächter in Frage kommen. „Dazu haben wir ein Computerprogramm entwickelt, das Kandidaten auf die wesentlichen Eigenschaften hin überprüft, die ein Wächtermolekül mit sich bringen muss“, erläutert Judith Zaugg. „Anschließend haben wir die Profile von mehr als tausend Genschaltern durch den Computer geschickt, wobei wir auf große Datenbanken mit Forschungsergebnissen zugreifen konnten.“
Wächter hebelt Krebstreiber aus
Das Forscherteam fand knapp 30 verschiedene Wächter-Kandidaten und entschied sich, einen davon weiter zu verfolgen: PROX1 (Prospero homeobox protein 1). Untersuchungen am Leberkrebsmodell zeigten, dass das Team einen Treffer gelandet hatte. Dazu Moritz Mall: „Tatsächlich stellte sich heraus: PROX1 ist ein sehr einflussreicher Wächter in Leberzellen. Fehlt er, verändern die Leberzellen ihren Phänotyp. Und umgekehrt lässt sich durch eine experimentell herbeigeführte Aktivitätssteigerung des Wächters die Wandlungsfähigkeit von Tumorzellen reduzieren. Wir waren überrascht, wie mächtig der Einfluss von PROX1 ist. Wir haben das Wächtermolekül an Mäusen getestet, die hochpotente Krebsmutationen in den Genen p53 und Myc aufwiesen. PROX1 war in der Lage, den Einfluss derart starker Krebstreiber auszuhebeln und trotz deren Anwesenheit die Bildung von Tumoren zu unterdrücken.“
Und noch etwas fanden die Forscher heraus: Der Wächter PROX1 muss ständig rund um die Uhr aktiv sein, um seine Funktion zu erfüllen. Das ist ein Unterschied zu vielen anderen Genschaltern, die ähnlich wie ein Kippschalter nur kurz betätigt werden müssen.
Es gibt noch viele offene Fragen, aber bereits jetzt ist klar, dass die Entdeckung des Wächtermoleküls Türen öffnen könnte zu neuen Therapien. Wenn es gelingen würde, lokal in der Leber die PROX1-Aktivität zu steigern, könnte das ein innovativer Ansatz für die Prävention und Therapie von Leberkrebs sein. Unklar ist, ob es in anderen Organen ähnliche Wächter gibt. Moritz Mall und Judith Zaugg sind davon überzeugt und wollen ihre erfolgreiche Forschungsallianz auch in Zukunft fortsetzen.
Lim B et al: Active repression of cell fate plasticity by PROX1 safeguards hepatocyte identity and prevents liver tumourigenesis
Nature Genetics, 2025, DOI: 10.1038/s41588-025-02081-w.